Herzkind in der Schule: Konzentration, Wahrnehmung, Stimmungsschwankungen - Diagnostik und Therapien, Empfehlungen
Entwicklung findet unser gesamtes Leben statt. Besonders achten wir als Eltern auf die Entwicklung unserer Kinder; wenn ihnen etwas gelingt, sehen wir mit großem Stolz auf sie, bemerken wir Schwierigkeiten, vergleichen wir sie mit anderen Kindern und beginnen uns zu sorgen. Bei Eintritt in Kindergarten und Schule fallen Vergleiche zu gleichaltrigen Kindern intensiver aus.
Besonders wenn jemanden das Schicksal mit einem chronisch belasteten, körperlich und/oder seelisch kranken Kind ereilt, erfahren alle (!) Familienmitglieder heftige Herausforderungen. Oft müssen sich die Betroffenen mit Defiziten arrangieren, die das bisherige Leben auf den Kopf stellt und das Leben nicht kranker Menschen viel sorgloser scheinen lässt. In einer im vergangenen Jahr publizierten Studie am Kinderherz-Zentrum Linz haben wir festgestellt, dass Herzkinder mit einem Einkammerherz im Laufe ihres Schullebens (6-17 Jahre) trotz ihrer schwierigen Erfahrungen lebensqualitativ sowohl im körperlichen – als auch im psychosozialen Bereich gleiche Werte wie gesunde Jugendliche entwickeln. Sie lernen also im Laufe ihrer Entwicklung mit den Nachteilen ihrer Krankheit so umzugehen, dass sie sich im privaten, schulischen und beruflichen Leben gut zurechtfinden. Konkret bedeutet das, dass einige von ihnen u.a. aufgrund von geringerer Sauerstoffsättigung im Blut mit Konzentrationsschwierigkeiten, Defiziten im leichten Erfassen von logischen Denkschemata oder auch dadurch ausgelösten depressiven Episoden zu kämpfen haben und durch liebevolle Unterstützung seitens der Eltern und Lehrer*innen dennoch über sich hinauswachsen und an allen Fronten widerstandsfähige, glückliche Persönlichkeiten werden.
Nicht selten wird aber auch die jeweilige ursprüngliche Erkrankung eines Kindes als alleinige Ursache für Lern-, Konzentrations-, Wahrnehmungs- und allgemeine Entwicklungsstörungen zugeschrieben. In manchen Fällen ist diese Annahme allerdings trügerisch und Entwicklungsdefizite manifestieren sich aufgrund sekundärer Attributionen: Das bedeutet, dass wir als Eltern voller Sorge so sehr auf die Krankheit unseres Kindes allein oder vorrangig fokussiert sind, dass dadurch eine unbeschwerte ganzheitliche Entwicklung beispielweise eines Herzkindes schwierig wird und auffällige Verhaltensweisen durch übervorsichtige Erziehungsmaßnahmen gefördert werden können.
Ich gebe ungern Rezepte, weil die emotionale Entwicklung von uns Menschen so individuell abläuft und Ratschläge nicht immer für jeden Einzelfall brauchbar sind bzw. umgesetzt werden und womöglich für manche zu „Schlägen“ werden können.
Aber ich erlaube mir, mit den Erfahrungen - einerseits als Vater von zwei eigenen Kindern, zwei angenommenen Kindern und jüngst einer Enkeltochter - andererseits mit dem Wissen und Fühlen als selbstbetroffenes chronisch krankes Herzkind (inzwischen EMAH) und als Psychologe, der vor vielen Studenten unterschiedlicher Studienrichtungen, vor Eltern, Pädagog*innen und Wissenschaftlern über entwicklungspsychologische Phänomene referiert hat, einige grundlegende Empfehlungen zu formulieren. Vielleicht berührt Sie die ein oder andere Bemerkung.
- Ihr „krankes“ Kind kann die größte aller Erwartungen erfüllen: dass das kleine Kind zu einem aktiven, lebendigen, geliebten Menschen mit ganz speziellen Gaben und Talenten heranwächst.
- Ihr Kind ist ein Gesamtkunstwerk: Versuchen Sie Ausgewogenheit zwischen Fürsorge und Leistungsbereitschaft zu schaffen.
- Fokussieren Sie das Leben Ihres Kindes nicht nur auf einzelne Aspekte: Ihr Kind hat viele Anlagen und es braucht Möglichkeiten, sich zu bewähren und eigene Entscheidungen zu treffen (entsprechend seinem Alter und seinem Entwicklungsstand).
- Wut, Furcht und Traurigkeit sind grundlegende Emotionen, die wir alle kennen. Richtig betrachtet, lernen wir bei angemessenem Umgang bei Wut Freiheit, bei Furcht Sicherheit und bei Traurigkeit die Fähigkeit, mit Menschen und der Welt Kontakt aufzunehmen.
- Ihr Kind fühlt sich geliebt, wenn es Augen- und Blickkontakt, Körperkontakt und konzentrierte Aufmerksamkeit von seinen Eltern und Bezugspersonen erfährt (ACHTUNG: das soll nicht den ganzen Tag lang geschehen sondern zuverlässig immer wieder!!)
- Grundbotschaften, die allen Menschen, aber besonders auch den Kindern guttun, sind: Du bist nicht verloren; Gut, dass es dich gibt, du bist mir wichtig; Du hast Fähigkeiten; An dir und in dir ist Gutes; Ich bin ehrlich und verlässlich; Was ich tue, tue ich auch deinetwegen.
- Unangemessen wird ein Kind „geliebt“, wenn besitzergreifende Liebe, stellvertretende oder Rollentausch vorliegen.
- Bei Konzentrationsproblemen (Aufmerksamkeitsdefizit) stets darauf achten, dass man sich positiv, d.h. freundlich, liebevoll und motivierend gegenüber dem Kind verhält.
- Loben Sie nicht nur Erfolg, sondern bereits die Anstrengungsbereitschaft.
- Gehen Sie grundsätzlich immer nur auf eine Sache ein oder fordern Sie nur eine Handlung ein, nicht gleich mehrere.
- Halten Sie dem Kind keine Fehler aus der Vergangenheit vor oder frischen Sie diese nicht auf, da dies auf das Kind demotivierend wirkt und eine negative Grundeinstellung hervorruft.
- Nutzen Sie die positiven Eigenschaften des Kindes: an Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeitssinn appellieren.
- Fördern Sie Kontakte des Kindes mit Gleichaltrigen (oft kapselt sich das Kind ab aus Angst, unbeliebt zu sein).
- Strukturieren und planen Sie den Tag/die Woche (genaue Uhrzeiten für einzelne Handlungen festsetzen / was wird wann wo getan).
- Legen Sie klare Verhaltensregeln zusammen mit dem Kind fest (evt. schriftlich fixieren), Konsequenzen (nicht Strafen!) bei Nicht-Einhaltung formulieren.
- Sorgen Sie dafür, dass alle Erziehungs- und Bezugspersonen in Hinblick auf die Erziehung des Kindes einig sind (Kommunikation mit den Lehrer*innen).
- Sprechen Sie grundsätzlich mit dem Kind in fester, ruhiger und bestimmter Art (freundlich, aber bestimmt) – nicht ironisch, zynisch oder aggressiv.
- Arbeiten Sie bei Kindern mit Konzentrationsproblemen oder Hyperaktivität mit nonverbalen Mitteln: kurzes Berühren an der Schulter (dies löst eine Orientierungsreaktion beim Kind aus).
- Arbeiten Sie mit kurzen Feedbacks („okay“, „gut“, „stopp!“).
- Vertreten Sie stets einen klaren Standpunkt und behalten Sie diesen bei, vor allem bei Anweisungen.
- Diskutieren Sie über Konflikte bzw. einen Streit nicht unmittelbar nach Beendigung, da sonst die Erregung sofort wieder steigt– lieber den Konflikt durch Schaffen von Fakten und Setzen von Regeln beenden.
- Vereinbaren Sie bei Hausübungen eine feste Zeit (eigener, aufgeräumter und ungestörter Arbeitsplatz, Hausaufgabenheft anlegen und kontrollieren, Hausaufgaben in überschaubare Lerneinheiten einteilen, kurze Pausen, nur Wesentliches einfordern, mit leichten Aufgaben beginnen, dann schwierigere, zum Schluss wieder leichtere, das Kind loben, auch wenn es Fehler macht, kein überflüssiges Reden, nach Fertigstellung der Hausaufgaben das Kind die Schultasche für den nächsten Tag packen lassen).
- Kinder brauchen Grenzen, bei kranken Kindern ist die Gefahr des Mitleids groß und Verwöhnen könnte im Alltag (!) unpassend sein. Sie brauchen Mitgefühl und Unterstützung, mit Niederlagen umzugehen.
So wie wir es im medizinischen Bereich gewohnt sind, eine/n Arzt/Ärztin zu konsultieren, ist es auch angebracht, uns bei pädagogischen und psychologischen Fragestellungen mit Fachleuten zu beraten, diagnostische Abklärung und Therapieempfehlungen einzuholen. Wir können als Eltern nicht immer alles wissen, noch dazu, wo uns manchmal ein einfacher klarer Blick als betroffene/r Mutter oder Vater nicht möglich sein kann, weil uns die eigenen Gefühle oder Sorgen im Griff halten. Es gilt, auch mit uns selbst nicht zu streng umzugehen.
Grundsätzlich plädiere ich, wie bereits oben erwähnt, entschieden dafür, immer an seine Kinder, an ihre Fähigkeiten, an ihre Stärken und an ihr widerstandsfähiges Verhalten zu glauben, ihnen Mut zu geben. Mitunter handeln wir als Eltern, weil wir so viel Liebe geben wollen, kontraindiziert. Nicht selten erlebe ich Väter und Mütter vor chirurgischen Eingriffen ihrer Kinder, sich doch selber viel lieber auf den OP-Tisch legen zu wollen, um dem eigenen Kind Not und Pein zu ersparen. Wer kennt dieses Gefühl oft auch in weniger bedrohlichen Lebensumständen nicht? Wir wollen es unseren geliebten Kindern einfacher machen und hindern sie dadurch an ihrem zwar mühevollen, aber doch entscheidenden Entwicklungsprozess. Oft versuche ich in meinem täglichen Arbeitsfeld am Kinder-Herz-Zentrum, den betroffenen Eltern von schwer erkrankten Kindern bewusst zu machen, dass ihr Kind nicht nur Herzkind ist, sondern eine Persönlichkeit mit vielen Fähigkeiten und Talenten, nicht reduziert werden will auf einige wenige kardiale Charakteristika, dass Kinder sich Eltern gegenüber nicht selten wie ein Spiegelbild verhalten, dass Unruhe, Angst, Unsicherheit und Verzweiflung seitens der wesentlichen Bezugspersonen mitunter auf die Kinder übertragen werden, dass wochenlang unausgeschlafene Mütter am Bett des Kindes keine Stütze mehr sein können. Freilich, jeder, der Vater oder Mutter ist und sich in einer so außergewöhnlichen Lebenssituation befindet, sein eigenes womöglich todkrankes Kind begleiten zu müssen, weiß, dass Achtsamkeit auf sich selbst schwer umsetzbar scheint, dennoch lautet einer meiner Standardsätze: Wenn Sie Ihrem Kind Gutes tun wollen, achten Sie bitte auf sich und ebenso auf Ihre Partnerschaft. Nicht selten geraten Eltern in eine oft kaum mehr bewältig- und organisierbare Zerrissenheit: kranken Sohn in der Klinik betreuen, gesunde Tochter zu Hause begleiten, Ehepartner außerhalb der Kinderbetreuung auch noch wahrnehmen, eigene Bedürfnisse (beispielweise ausreichend Schlaf) nicht ganz vernachlässigen – und schließlich über all dem die beißende Angst, ob das erkrankte Kind wieder gesund wird oder überleben kann und wie es leben wird …
Unser aller Leben ist ein Kunstwerk und oft von Dilemmata geprägt, weil uns gerade bei der Begleitung unserer Kinder so vielen Entscheidungen abverlangt werden, es ständiger Abwägung bedarf und wir nicht immer alles richtig machen können und wir mitunter manche psychopädagogische Empfehlung als Frotzelei provokant wahrnehmen. Letztendlich begleiten wir unsere Kinder mit (bedingungsloser) Liebe und achten darauf, auch uns selbst ausreichend zu lieben. Wenn uns das gelingt, werden die Spiegelneuronen wirksam und unsere Kinder merken, wie authentisch wir sie lieben.
Anmerkung: Anbei einige sehr empfehlenswerte Bücher, deren Inhalte uns in unserem Glücklichsein und Handlungsbewusstsein als Eltern, Familienmitglieder und Individuen bestärken:
Literatur:
- Ammer, K. (2020). Großwildjäger. Linz: Roiter.
- Bauer, J. Warum ich fühle was du fühlst. München: Heyne.
- Friedl, R. (2019). Der Takt des Lebens. Warum das Herz unser wichtigstes Sinnesorgan ist. München: Goldmann.
- Hüther, G. (2008). Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. München: Graefe.
- Messner, H. (2019). Der schmale Grat. München: Ludwig.
- Oberhuber, R. (2019). Leben(dig). Gedeihen trotz widriger Umstände. Linz: Roiter.
- Pretre, R. (2019). In der Mitte schlägt das Herz. Hamburg: Rowohlt.
- Ringel, E. (1987). Die ersten Jahre entscheiden. Wien: Jungbrunnen
- Thomashoff, H.O. (2017). Das gelungene Ich. München: Ariston.